Samstag, 3. September 2016

Das Mädchen mit den Schwefelhölzern


Das Mädchen mit den Schwefelhölzern
Hans Christian Andersen

Es war später Abend, die Dunkelheit hatte sich längst über die Stadt gelegt. Es schneite und war grimmig kalt. Der letzte Tag im Jahr neigte sich seinem Ende zu. In dieser Finsternis und Kälte ging ein kleines Mädchen durch die Straßen der Stadt. Es war ein armes Mädchen, ohne Kopftuch und mit nackten Füßen lief es durch die dunklen Gassen. Am frühen Morgen, als sie von zu Hause wegging, hatte sie noch Pantoffeln angehabt, Pantoffeln die früher ihre Mutter getragen hatte und die dem kleinen Mädchen viel zu groß waren. Jetzt stand sie barfuss am Straßenrand, denn das kleine Mädchen hatte die Pantoffeln verloren. Hatte sie verloren als sie zu schnell über die Straße gehastet war, um nicht von einer herannahenden Kutsche überfahren zu werden. Für einen kleinen Moment hatte sie traurig innegehalten. Jetzt ging sie auf ihren kleinen nackten und von der eisigen Kälte bereits rot und blau gefärbten Füßchen einsam und frierend weiter. In einer alten, abgewetzten Schürze trug sie eine Menge Schwefelhölzer, während sie einen Bund zitternd in der Hand hielt. Den ganzen Tag hatte ihr noch niemand etwas abgekauft. Nicht einmal Almosen hatte man ihr geschenkt.

Den Tränen nahe schlich sie mutlos, hungrig und zitternd vor Kälte die Straße entlang. Schneeflocken fielen auf ihr langes, schönes blondes Haar, das ihr in sanften Wellen bis zu den Schultern hinab fiel. Aber daran verschwendete sie im Moment keine Gedanken. Denn ihre Blicke wanderten hinauf zu den hell erleuchteten Fenstern, hinter deren Scheiben überall Wärme ausstrahlende Lichter glänzten. Herrlicher Duft von Gänsebraten drang an ihre Nase und zog durch die engen Straße der verschneiten Stadt. Sie dachte daran, das es Silvesterabend ist. Sie dachte an ihren vor Hunger knurrenden Magen und wie die Menschen dort oben, hinter den vereisten Fenstern wohl feiern mochten? Langsam ging sie weiter, ohne dabei ihre traurigen Augen von den hell erleuchteten Fenster abzuwenden. In einem von zwei Häuser gebildeten Winkel, von denen ein Haus zur Straßenfront hinausragte, hielt sie inne. Hier war sie etwas vor dem eisigen Wind geschützt. Aber die Kälte nahm weiter zu. Müde kauerte sie sich nieder. Zu gerne wäre sie jetzt nach Hause gegangen. Sie fror sehr. So sehr, das ihr die Füße und Hände schmerzten. Aber trotz der zunehmenden Kälte getraute sie sich nicht den Heimweg anzutreten. Zu groß war ihre Angst vor den Schlägen des Vaters, weil sie noch nicht für einen einzigen Pfennig Zündhölzer verkauft hatte. Auch wusste sie nicht, was sie dort eigentlich sollte? Denn auch daheim war es eisig kalt. Sie wohnten direkt unter dem Dach. Auch da pfiff der eisige Wind durch alle Ritzen und Löcher des alten Gemäuer. Die Kälte nahm weiter zu und das kleine Mädchen fror immer entsetzlicher! Ob sie es wohl wagen durfte, wenigstens ein einziges Streichholz anzuzünden, um sich ihre erstarrten Händchen daran zu wärmen? Zitternd und umständlich zog sie ein Schwefelhölzchen raus und zündete es unbeholfen mit ihren klammen Fingern an! Hell entfachte sich fauchend der kleine Schwefelkopf, während die Zündflamme dabei kleine Funken versprühte. Ihre Kinderaugen glänzten und starrten glücklich auf die kleine Streichholzflamme. Oh wie schön diese doch war! Das kleine Mädchen glaubte plötzlich, an einem wärmenden Ofen zu sitzen, und streckte ihre halb erfrorenen Füßchen aus, um auch diese zu wärmen. Aber im gleichen Moment erlosch das Streichholz. Der Ofen war verschwunden, und sie saß mit dem abgebrannten Ende des Schwefelhölzchen wieder im dunkeln. Eilig entfachte sie ein weiteres Zündholz. Während sich das kleine Mädchen dabei einen Moment in der einsamen Straße umsah, bemerkte es, das der Feuerschein des Zündhölzchens bis zu einer nahe gelegenen Mauer leuchtete. Angestrengt starrte sie durch das dichte Schneetreiben genau auf jene Stelle der Mauer, worauf der Lichtschein ihrer kleinen Streichholzflamme fiel. Denn genau an dieser Stelle wurde die Mauer plötzlich durchsichtig. Wurde durchsichtig wie ein sanfter Schleier. Das kleine Mädchen konnte jetzt durch den Schleier hindurch in eine warme Stube sehen. In der Mitte des Raumes stand ein festlich gedeckter Tisch auf dem sich ein herrlich duftender Gänsebraten befand. Gefüllt mit Äpfel und getrockneten Pflaumen. Ihr kleines Kindergesicht begann zu leuchten. Aber was war das? Die gebratene Gans sprang plötzlich aus der Schüssel und watschelte geradewegs auf das kleine Mädchen zu! Da ging ihr auch dieses Streichholz aus und sie blickte nur noch auf die kahle, kalte Mauer. Sie zündete ein weiteres Schwefelhölzchen an. Kaum leuchtete es auf, saß sie plötzlich unter einem großen, herrlich geschmückten Weihnachtsbaum. Auf seinen grünen Zweigen brannten Tausende von Lichter. An den Zweigen hingen Kugeln und bunte Weihnachtsbilder. Es waren die gleichen Bilder wie das kleine Mädchen sie in den festlich geschmückten Schaufenstern bewundert hatte. Jetzt sahen diese Bilder auf sie runter und es roch nach Bratäpfel. Gerade als die Kleine freudig beide Händchen danach ausstreckte, erlosch auch dieses Schwefelholz. Die herrlichen Weihnachtslichter aber stiegen jetzt höher und immer höher und das kleine Mädchen sah sie jetzt als funkelnde Sterne am Himmelszelt. Währen das Mädchen mit leuchtenden Augen das Wunder bestaunte, fiel plötzlich einer der Sterne herab und zog einen langen Feuerschweif hinter sich her. „Jetzt stirbt ein Mensch!“ Sagte sich das kleine Mädchen. Denn ihre alte, längst verstorbene Großmutter hatte ihr einst erzählt, das immer dann, wenn ein Stern vom Himmel fällt, eine Seele zu Gott emporsteigt! Neugierig entzündete sie wieder ein Schwefelhölzchen und sah im sanften Lichterglanz plötzlich ihre gute, alte Großmutter. Voller Liebe und verständnisvoller Wärme sah die Großmutter auf das kleine Mädchen mild herab. Da rief das Mädchen plötzlich Herz zerreißend: „Liebe, liebe Großmutter, bitte nehme mich mit! Ich weiß genau, dass du wieder verschwindest, wenn das Schwefelhölzchen erlischt. Genauso verschwinden wird wie der warme Ofen, der herrliche Gänsebraten und der herrlich geschmückte Weihnachtsbaum!“ Jetzt strich das kleine Mädchen eilig ein Schwefelhölzchen nach dem anderen an, um die Großmutter möglichst lange festzuhalten. Sie hatte die Großmutter früher nie so schön gesehen. Sie sah wundervoll aus und das Mädchen hatte die Großmutter auch nicht so groß in Erinnerung, wie diese jetzt auf sie zukam. Liebevoll nahm die Großmutter das kleine blonde Mädchen auf ihren Arm und beide flogen voller Freude im Glanz der Sterne nach oben. Stiegen hinauf zum nächtlich funkelnden Himmelszelt. Flogen zu jenen Ort, an dem es weder Kälte, noch Hunger gab. Stiegen auf zu ihrem Schöpfer. Flogen zu jenem Ort wo es keine Angst mehr gibt! Denn jetzt waren Sie bei Gott!

Als aber am Neujahrsmorgen die ersten Menschen auf die Straße gingen, fanden die Leute genau im Winkel zwischen den beiden Häusern ein kleines Mädchen mit roten Wangen und einem sanften Lächeln im Gesicht. Es war tot. Erfroren am letzten Abend des alten Jahres. Rund um das kleine, tote Mädchen, lagen abgebrannte Schwefelhölzer. „Sicherlich hat sie noch versucht, sich zu wärmen“, sagten mitleidig die Leute. Was die Menschen aber nicht wussten, waren die wunderschönen Dinge die das kleine Mädchen gesehen hatte. Ahnten nichts von ihrem letzten Erlebnis und wie das kleine Mädchen zusammen mit ihrer alten Großmutter zu Neujahr aufgestiegen war. Gemeinsam mit ihrer Großmutter im Sternenglanz aufgestiegen war, zu Gott, ihren Schöpfer!

(Frei übersetzt nach einem Volksmärchen von Hans Christian Andersen)

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen